Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich noch kaum Rollenspiel-Erfahrung und selbst nur wenige Male
DSA1 / 2 gespielt (was mich aber genug geflasht hat, um mich fortan sehr für das Hobby zu begeistern). Ich hatte auch ein paar
DSA2-Boxen zuhause, spielte das aber nur selten. Ich hing aber oft in einem Computerspieleladen in meiner Heimatstadt herum, wo auch einige Pen and Paper-Rollenspiele und Battletech-Sachen in einer Ecke standen. Dort kaufte ich mir hin und wieder Ausgaben der Zeitschrift
Wunderwelten (eine wichtige Informationsquelle für mich, da es das Internet noch nicht gab) und stöberte im Regal herum. Irgendwann begleitete mich mein Vater in diesen Laden (er wollte sich leere Disketten oder so kaufen) und spendierte mir eine Rollenspiel-Box: Es handelte sich um die Basis-Box von
Midgard-Das Fantasy-Rollenspiel (3. Edition), welches damals von Klee-Spiele vertrieben wurde.
Als ich zuhause in den Regelheften schmökerte, merkte ich schnell, dass es sich um ein wesentlich solideres System als DSA handelte. Die Regeln waren wesentlich komplexer und realistischer, es gab vergleichsweise viele Charakterklassen, sehr viele Waffen und schon in den Grundregeln recht viele Zauber und Fertigkeiten, sowie ein relativ ausführliches Bestiarium. Bei DSA2 waren ja noch nichteinmal die ausführlichen Magieregeln in der Grundbox enthalten, geschweige denn ein Bestiarium, oder eine Beschreibung der Welt. Midgard lieferte dies alles in drei in der Box enthaltenen Heften direkt mit. Dies hat mich fast ein wenig überfordert, aber ich war gleichzeitig so begeistert von dem Material, dass ich eifrig anfing, die Hefte zu studieren.
Dies tat ich bald auch zusammen mit einem guten Freund, mit dem ich früher oft das Brettspiel Heroquest gespielt hatte und der genauso fantasy-begeistert war, wie ich. Ich brachte die Midgard-Box mal zu ihm mit und auch er war von dem realistischen Regelwerk so angetan, dass er es sich kurze Zeit später selbst zulegte. Seitdem studierten und spielten wir bei jedem unserer Treffen Midgard und hatten dann auch schnell einen weiteren Freund rekrutiert, der ebenfalls begeistert mit dabei war. Ich kann mich an kein Abenteuer mehr erinnern, aber soweit ich weiß haben wir meistens irgendwie improvisiert und spontan irgendwelche abenteuerlichen Situationen und Begegnungen mit Monstern ausgespielt, wobei immer jemand anders der Spielleiter war. Es war wie gesagt wesentlich komplizierter als DSA, aber ich glaube gerade das hat uns angesprochen. Auch die Hintergrundwelt "Midgard", mit ihren an die irdische Antike angelehnten Völkern und Kulturen hat uns sehr fasziniert.
Irgendwann Mitte der Neunziger brach die Freundschaft auseinander und meine Midgard-Box war weg! Hatte ich sie dem Mitspieler (ein Freund meines Freundes) ausgeliehen und nicht wiederbekommen? Oder ging sie verloren? Wurde sie mir geklaut? Ich weiß es nicht mehr.... Aber ich spielte seitdem nie wieder Midgard (ich hatte keine Lust, mir die ganzen Sachen neu zu kaufen), sondern wechselte zu AD&D und Shadowrun (und später viele andere Systeme). Dennoch war Midgard für mich immer mit schönen Erinnerungen verbunden und blieb mir als "gutes, realistisches Rollenspiel" im Gedächtnis. Ca. 25 Jahre lang habe ich Midgard seit dem Verlust der Box ignoriert. Ich habe sie auch in keinem Laden mehr gefunden (der Computerspieleladen hatte inzwischen auch zugemacht). Als dann wesentlich später die vierte und vor ein paar Jahren die fünfte Edition von Midgard erschienen, habe ich das zwar wahrgenommen, als ich in Rollenspielläden unterwegs war, aber war zu sehr mit anderen Spielen beschäftigt, um mir die Sachen zu holen. Zudem gefiel mir die Aufmachung als Box mit drei Heften damals viel bessr, als die Hardcover-Bücher späterer Editionen.
Erst vor ein paar Tagen war es dann soweit: Ich entdeckte "meine" alte Midgard-Box bei Ebay-Kleinanzeigen wieder, zusammen mit der Ausbaubox "Welt der Abenteuer" und der Regionalbox "Die Pyramiden von Eschar". Alles zusammen wurde in einem sehr guten Zustand für einen sehr guten Preis angeboten und ich schlug sofort zu. Jetzt sind die Sachen bei mir und ich bin begeistert! Das Midgard-Fieber hat mich wieder gepackt! Ich bin sehr froh, die Grundbox wieder zu haben und dass auch noch die Regelergänzungsbox und Eschar mit dabei sind, ist der Knaller überhaupt! Somit bin ich nun im Besitz der vollständigen Regeln und kann wieder ins Spiel einsteigen, ohne mir unbedingt neuere Sachen dafür kaufen zu müssen (ich finde, die Regeln der dritten Edition sind für mich vollständig genug und haben außerdem einen gewissen Oldschool-Charme und natürlich einen persönlichen Nostalgie-Bonus). Je mehr ich mich mit den alten Regelheften auseinandersetze, desto größer wird die Lust, das Ganze endlich wieder zu spielen. Ich liebe diese Boxen!
Doch nun zum Spiel selbst: Midgard wurde von Jürgen E. Franke, einem Mathematikprofessor, geschrieben und die erste Edition erschien bereits 1981, war also somit das erste deutschsprachige Fantasy-Rollenspiel. Franke war Mitglied in einem Fantasyverein namens FOLLOW, in dem eine Art Konfliktsimulation auf einer Fantasywelt namens Magira gespielt wurde. Nach ersten Erfahrungen mit Dungeons&Dragons und dem damals neuartigen Genre "Rollenspiel", schrieb Franke eigene Regeln zum Spiel auf der Welt Magira. Bis zur zweiten Edition war dies die Hintergrundwelt von Midgard und erst ab der dritten Edition wurde dies aus rechtlichen Gründen geändert und die Welt hieß dann genauso wie das Spiel. Inhaltlich war die Welt Midgard aber dennoch stark an die Welt Magira angelehnt. Wie bereits oben beschrieben orientiert sich die Spielwelt sehr stark an irdischen Kulturen von der Antike bis zum Mittelalter, so dass eine große Bandbreite an Abenteuern mit unterschiedlichen Flairs gespielt werden können. Midgard entwickelte sich in Deutschland eher neben der restlichen Rollenspiel-Szene und wird bis heute auf eigenständigen Midgard-Cons von Spielern gespielt, die teils schon seit Jahrzehnten mit dabei sind. Für die aktuelle fünfte Edition kommen immer noch von Zeit zu Zeit Ergänzungsbände heraus, das Spiel ist also noch am Leben und wird wohl vor allem von der Stammspielerschaft getragen. Soviel ich weiß wurden die Regeln einer Generalüberholung unterzogen, aber letztenendes hat sich nicht allzu viel an ihnen geändert, so dass nicht sehr viel Arbeit nötig ist, um Charaktere u.A. von einer Editon auf die andere zu konvertieren.
Die Regeln haben einige Eigenheiten aufzuweisen, von denen die bekannteste sicher die Einteilung in Lebenspunkte und Ausdauerpunkte ist. Ein Charakter verliert im Spiel ständig Ausdauerpunkte, auch wenn er zum Beispiel gegnerische Schläge pariert. Dies repräsentiert die Anstrengung, die mit solchen Aktionen einhergeht und das macht den Kampf mit mittelalterlichen Waffen in diesem Spiel recht realistisch. Wenn die Ausdauerpunkte auf null sinken, ist der Charakter geschwächt und ein wesentlich leichteres Ziel für seinen Gegner, der ihm dann leichter schweren Schaden (Lebenspunkteabzug) zufügen kann. Zudem gibt es ausführliche Tabellen für kritische Treffer, so dass es nicht unwarscheinlich ist, das Charaktere nach Kämpfen durchaus bleibende und teils erschreckende körperliche Schäden davontragen.
Charaktertechnisch hat Midgard neben den Völkern Mensch, Elf, Zwerg, Halbling und Gnom eine relativ große Palette an Klassen zu bieten. Es gibt zwei Grundklassen (Magier und Krieger), die weiter in viele verschiedenene Unterklassen unterteilt sind. Von Barbaren, über Söldner, Barden, Ordenskrieger, Priester, Magier, Schamanen, bis hin zu Glücksrittern, Spitzbuben oder Thaumaturgen ist hier einiges vertreten.
Für die magiebegabten Klassen gibt es eine Fülle an gut ausgearbeiteten (aber nicht übertrieben starken) Zaubern, aus denen sie wählen können und sogar Krieger können im Laufe der Zeit auch das Zaubern erlernen. Das ist auch das Schöne an Midgard: Die Charaktere sind mit der Zeit beliebig ausgestaltbar und können in jede beliebige Richtung entwickelt werden. Die Charakterklasse, die man anfangs wählt oder erwürfelt, ist nur ein grober Rahmen.
Zur Ausgestaltung kann auch aus einer Vielzahl an Fertigkeiten gewählt werden, die sich im Spiel recht einfach handhaben lassen. Für eine Fertigkeitsprobe würfelt man mit einem W20, zählt den Fertigkeitsbonus dazu und muss Zwanzig oder mehr erreichen, um Erfolg zu haben. Der Spielleiter kann den Wurf situationsbedingt mit Zuschlägen oder Abzügen belegen. Eine gewürfelte Eins ist immer ein Fehlschlag und eine gewürfelte Zwanzig immer ein Erfolg, bzw. kritischer Treffer. Manche Fertigkeiten haben gar keinen Wert, sondern ermöglichen dem Charakter einfach bestimmte Tätigkeiten, ohne als Spieler dafür würfeln zu müssen. Natürlich gibt es spezielle Sonderfälle und jede Fertigkeit wird genau und teils mit bestimmten Modifikationen für den Würfelwurf in den Regeln beschrieben. Alles in Allem ist das Ganze aber sehr flüssig spielbar.
Ich bin wie gesagt ziemlich glücklich mit meiner neu erstandenen alten Edition von Midgard und werde sicher noch das ein oder andere alte Abenteuer dieser Ausgabe zu meiner Sammlung hinzufügen. Für mich fühlt es sich so an, als ob ich nach langer Zeit auf Reisen wieder nach Hause gekommen bin! Jetzt muss ich nurnoch Leute finden, die das mit mir spielen wollen...