Sonntag, 11. September 2016

Shadowrun und das Spielleiten


"Shadowrun? Also das Setting find ich total geil, aber die Regeln sind Scheiße! Wie kann man das nur spielen, oder schlimmer noch, leiten wollen?!?!" ist wohl schon seit der ersten Edition des berühmten Cyberpunk-Fantasy-Crossover-Rollenspiels eine gängige Reaktion von Nicht-Shadowrun-Spielern, wenn sie in einem Gespräch auf das Thema angesprochen werden. Und trotz mehrfacher Neuauflagen, bei der jedes Mal von den Spielentwicklern versichert wurde, die Regeln strukturierter, verständlicher und flüssiger gemacht zu haben, bleibt Shadowrun nach wie vor, was es immer war: Ein ultrakomplexes und sehr umständliches Regelmonster. Das stimmt zwar, aber nach der ganzen Zeit, in der ich jetzt mit meiner Runde tatsächlich regelmäßig (das Wort bekommt beim Thema Shadowrun eine gänzlich neue Bedeutung...) SR gespielt habe, sehe ich das Thema etwas differenzierter als früher.
Eigentlich passt diese Komplexität der Regeln ganz gut zum Setting. Man spielt einen Charakter in einer ganz bestimmten Welt. Diese ist in ihrer Tiefe ebenfalls sehr komplex und sehr ausführlich in den ganzen Büchern beschrieben. Dass es für alle möglichen Gegenstände, Charaktere und Situationen, die innerhalb dieser komplex beschriebenen Welt auftreten können nicht minder komplizierte Regelausführungen gibt, passt komischerweise irgendwie. Dazu kommt, dass ich bei Shadowrun, im Gegensatz zum Beispiel dem auch relativ crunchigen D20-System, feststelle, dass es gut machbar ist, viele Regeln nur optional einzusetzen und die ganzen Regelbücher eher als eine Art Nachschlagewerk für Notfälle und besondere Situationen zu verwenden. Man kann das Spiel sozusagen modular aufbauen, je nachdem, welche Komplexität die Situation innerhalb der Story erfordert! Und mit diesem Hintergedanken wird Shadowrun auch spielbar/leitbar!

In Situationen, in denen etwas nicht so wichtiges für die Handlung geschieht, muss man auch nicht die vollen Regeln einsetzen, sondern kann anhand einer vom SL (und dem gesunden Menschenverstand) festgelegten Schwierigkeit mit einem einfachen Fertigkeits-, oder Attributswurf ohne weitere Spezialregeln das Ergebnis einer Aktion ermitteln. Situationen, in denen etwas für das Abenteuer oder die Kampagne wichtiges passiert und in denen es wirklich aufs Detail ankommt, können aber mit den vielen zusätzlichen Regeloptionen auch präziser dargestellt und sogar spannender gemacht werden.

Ein Pro-Komplexitäts-Argument von Shadowrun-Fanatikern ist, dass die komplexen Regeln eben auch komplexe Charaktere ermöglichen. Dem stimme ich zwar zu, aber diese Fähigkeit kann man minimaleren Systemen dennoch auch nicht absprechen, nur liegt bei ihnen die Komplexeität des Charakters irgendwie mehr in den Händen der Spieler und ihrer Vorstellungskraft und weniger in den Vorgaben, oder Vorschriften eines Systems, welches verzweifelt versucht, jede kleine Unterfähigkeit und Charaktereigenart, sowie jede erdenkliche Situation mit vorgegebenen speziellen Regelverfahren zu assimilieren. Für mich stellt das zwar noch keine Begrenzung der Fantasie der Spieler dar, denn komplexe und total individuelle Charaktere lassen sich natürlich mit Shadowrun erschaffen, aber es erschwert das flüssige Ausspielen doch erheblich, wenn man sich vornimmt, immer wirklich regelgetreu spielen zu wollen.

Bei Shadowrun sollte man tatsächlich davon absehen, das Spiel in jeder Situation regelgetreu zu spielen! Wie gesagt, oft reichen grundlegende Fertigkeitswürfe mit einem grob eingeschätzten Schwierigkeitswert, oder bestimmten Modifikatoren schon aus, um Aktionen im Spiel flüssig und schnell abzuhandeln, nur in wichtigen und spielentscheidenden Momenten können und sollten manchmal auch die vollen Regeln eingesetzt werden. Gegner und NSC´s müssen nicht alle erschaffen werden, meist reichen die Templates im Grundregelwerk völlig aus, oder können abgewandelt werden. Ich agiere manchmal sogar mit einfachen Standardwerten: Ich gebe einem NSC einfach einen Wert von 1-10. der seine Erfahrung ausdrücken soll. Sachen die der NSC gut kann haben einen Würfelpool, der dem doppelten seines Wertes entspricht. Für Sachen, die er nicht gut kann, wird der Wert nicht verdoppelt, oder ist sogar noch niedriger. Der Schadensmonitor beträgt bei mir bei NSC´s meistens einfach 10 Kästchen für Körperlichen und Geistigen Schaden.

Zudem finde ich natürlich auch den Spielleiterschirm und die Cheat-Sheets für die unterschiedlichen Charakterklassen sehr nützlich, die man käuflich erwerben kann. Für bestimmte Regelbereiche sollte sich der SL weitere Cheat-Sheets anfertigen. Wenn die Regeln aus den Büchern zusammengesammelt werden (das ist auch ein Nachteil von Shadowrun: Manche Regeln zu einem Thema sind über viele Abschnitte verteilt und man muss erstmal kapieren, wie das alles überhaupt zusammenpasst und man sich das vorzustellen hat!) und man auf einem Blick sehen kann, was denn nun gewürfelt werden muss, ist das schon sehr hilfreich. Eine weitere Grundregel von mir ist: Wenn Situationen anhand von Rollenspiel ausgespielt werden können, wie zum Beispiel ein Großteil der Connection-Arbeit, dann sollte es dabei belassen werden und störende Würfelei, oder Regelspitzfindigkeiten auf jeden Fall vermieden werden (...auch wenn man daür manchmal beide Augen zudrücken muss!).

Was man auch beachten sollte, ist, dass es auch unterschiedliche Spielertypen gibt: Manche sind versessen auf Regelcrunching und wollen jede Regel buchgetreu ausspielen, andere stört das eher, wieder andere wollen am liebsten garnicht würfeln und alles nach Lust und Laune selbst bestimmen... Auch darauf muss man als Spielleiter/-in eingehen und die richtige Mischung aus Leichtigkeit und Regel-Komplexität finden, damit alle zufrieden sind.

Und damit komme ich direkt zum nächsten wichtigen Aspekt, der für ein flüssiges Shadowrun-Spiel vonnöten ist: Die Spieler!
 Bei Shadowrun kann es nie schaden, wenn die Spieler auch selbst mal in den Regelbüchern (vor allem dem Grundregelwerk und den für ihre Charaktere passenden Regelbüchern) lesen. Notizen und kleine Sheet-Cheets, die sich die Spieler selbst für ihre Charaktere und deren Spezialfähigkeiten, Zauber und Gadgets anlegen sind wichtig. Der Spielleiter hat ja normalerweise alle Daten der SC´s vorliegen, aber ständig alles im Blick zu haben und dann noch zu wissen, wie es im einzelnen im Notfall regeltechnisch ausgespielt werden muss, ist unmöglich für ihn/sie! Daher ist die Mitarbeit der Spieler, ein wenig Regelstudium und auch das Hineinlesen in den interessanten Hintergrund des Spieles wirklich von Vorteil. Zumindest was den eigenen Charakter angeht, sollte der Spieler ungefähr wissen, wie er seine Fähigkeiten am Spieltisch nutzen kann.
Eine weitere schöne, aber dennoch unter den Spielern unbeliebte Methode ist folgende:
Wenn wir eine Spielsitzung beginnen, dann wird unter den Spielen ein Schriftführer ausgewählt, der sich Details der Handlung, wie zum Beispiel das Datum, Uhrzeiten, wichtige Namen und Begebenheiten notiert. Dies ist, wie gesagt, zwar eine unbeliebte und nur zähneknirschend von den Spielern akzeptierte Aufgabe, aber in Nachhinein stellt sich das so entstehende Runner-Tagebuch als überaus nützlich heraus, wenn man herausfinden möchte, was eigentlich nochmal beim vorletzten Run passiert war, nach einem unterbrochenen Run wieder einsteigen möchte, oder ganz einfach, um wichtige Informationen und NSC´s einfach nicht wieder zu vergessen.

Wer es mit Shadowrun aufnehmen will, stellt sich und seine ganze Spielergruppe vor eine komplizierte Herausforderung. Trotz- und vielleicht sogar deswegen macht Shadowrun auf seine ganz eigene Weise aber auch Spaß, wenn man weiß, wie man es gewichten muss! Vielleicht können meine Tipps ja dem einen, oder der anderen abgeschreckten Spieler-/Spielleiter-/-in etwas helfen, das Spiel flüssiger zu gestalten und die Regeln immer nur dann voll einzusetzen, wenn es nötig ist, um Unklarheiten und Streitereien zu vermeiden, die Wichtigkeit und Komplexität der Handlung es verlangt, oder einfach, weil die Spieler Lust auf ein solches Regelgefuchse haben. Mit mir ist Shadowrun aber mit viel zuviel Regelgefuchse nicht zu haben, ich leite gern eher freeformig und spontan, soweit es möglich und sinnvoll ist.

Schönen Abend wünscht:

Der Spielleiter

3 Kommentare:

  1. Etwas überkritisch, was Shadowrun anbelangt (sicherlich im Vergleich zu anderen Spielsystemen), aber gut geschrieben.
    Hier gibt's viele gute Tips, wie man sich als Spielleiter unnötigen Stress erspart und für ein einigermaßen flüssiges Spiel sorgen kann.
    Soweit ich das beurteilen kann, wirklich hilfreich!

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    1. Danke :) ich hab hier textlich noch einige überarbeitungswürdige Stellen drin, aber die verbessere ich auch noch

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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